Station 1

Virtuelle Forschungsumgebungen
Was sind virtuelle Forschungsumgebungen?

(Autor: Wolfgang Bruckner, 30.09.2015)

Virtuelle Forschungsumgebungen stellen ein digitales Arbeitsumfeld für geisteswissenschaftliche Forscher zur Verfügung. Dabei sollen alle Schritte wissenschaftlichen Arbeitens an einem virtuellen Ort erledigt werden können. Die Arbeitsphasen umfassen das Sammeln und Verwalten von Primärdaten und Quellen (wie etwa Faksimiles), die Bearbeitung und Auswertung derselben bis zur Präsentation und Publikation von Forschungsergebnissen (vgl. auch Meyer 2011: 40). Für alle diese Schritte werden entsprechende digitale Werkzeuge in der virtuellen Forschungsumgebung bereitgestellt. Darüber hinaus unterstützen virtuelle Forschungsumgebungen kollaborative Forschung, da mehrere Wissenschaftler gleichzeitig und ortsunabhängig in einer virtuellen Forschungsumgebung an demselben Projekt unter gleichen Voraussetzungen arbeiten können. Dokumente, wissenschaftliche Publikationen, Quellen und Teilergebnisse können schnell für alle beteiligten Forscher zugänglich gemacht werden, wodurch der steigenden Bedeutung von internationaler Forschung und globalen wissenschaftlichen Fragestellungen Rechnung getragen wird.

Video des DHd-Kanals zu Virtuellen Forschungsumgebungen

Virtuelle Forschungsumgebungen erlebten einen ersten Aufschwung in Großbritannien bereits ab 2004. Seit 2008 wird ihre Entwicklung auch in Deutschland durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert (vgl. Meyer 2011: 38). Das mit der Entwicklung von virtuellen Forschungsumgebungen verfolgte Ziel formuliert Thomas Meyer folgendermaßen: »Wissenschaftler/innen sollen in den verschiedenen Arbeitsprozessen von Datensammlung, Datenaggregation und -auswertung, Literaturbeschaffung, in der Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen und der persönlichen Terminplanung sowie der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse unterstützt werden.« (Meyer 2011: 38).

Vor- und Nachteile virtueller Forschungsumgebungen

Virtuelle Forschungsumgebungen erleichtern wissenschaftliches Arbeiten in erster Linie durch die Werkzeuge, welche sie gesammelt zur Verfügung stellen. Sind die verfügbaren Werkzeuge nicht ausreichend, können individuell meist noch weitere hinzugefügt werden. Außerdem fungieren sie als ein Pool, welcher alle für die Arbeit notwendigen Materialien ortsunabhängig zugänglich speichert. Ein zentraler Punkt virtueller Forschungsumgebungen ist die Möglichkeit einer differenzierten Rechteverwaltung. Hierdurch ist es möglich, dass interessierte Fachkollegen und die Öffentlichkeit Zugriff auf bestimmte Teile (oder gar alle Inhalte) des Forschungsprojektes erhalten und sich somit

  • unmittelbar über die Arbeiten informieren können,
  • kritische Rückmeldungen an das Forscherteam übermitteln können und
  • die Fortführung der Forschung durch eigene Arbeiten vereinfacht wird.

Durch die gemeinsame Arbeitsplattform werden die einzelnen Forschungsschritte wesentlich transparenter und nachvollziehbarer. »Duplizierungen von Forschungsprozessen« (Arbeitsgruppe Virtuelle Forschungsumgebungen 2011, o. S.) können durch eine immer aktuelle Übersicht über die Fortschritte und Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler vermieden, ein aufeinander aufbauendes, gemeinsames Arbeiten dagegen gesichert werden. Schließlich unterstützen virtuelle Forschungsumgebungen auch die Präsentation und Publikation von Forschungsergebnissen und sollen einen Beitrag zur Lösung der Problematik der Langzeitarchivierung digitaler Forschungs- und Ergebnisdaten leisten.

Bei allen Vorteilen eines globalen Zugriffs auf ein Forschungsprojekt birgt dieser jedoch auch einige Nachteile. Da Daten auf zentralen Servern abgelegt werden und auf diese ständig zugegriffen wird, ergibt sich eine Abhängigkeit von technischen Konzepten und Geräten. Werden externe Server von Drittanbietern genutzt, stellen sich darüber hinaus Fragen des Datenschutzes (je nach Material) und nach der Vertrauenswürdigkeit des Anbieters. Also etwa, welche Rechte durch die Nutzung der Dienste (unbewusst) abgetreten werden. Damit ein kreatives und produktives Arbeiten in einer virtuellen Forschungsumgebung stattfinden kann, ist die Einrichtung der Forschungsumgebung und eine gewisse Einarbeitungszeit notwendig. Neben diesen zeitlichen Aufwendungen ist die Frage der Finanzierung oftmals ausschlaggebend, ob auf eine virtuelle Forschungsumgebung umgestellt werden kann. Arbeiten alle Forscher mit den ähnlichen Methoden und digitalen Werkzeugen unter den gleichen Voraussetzungen, könnte eine Standardisierung von Forschungsprozessen, im Extremfall sogar der Erwartungshaltung an die Forschung eintreten. Kreative Neuinterpretationen und innovative Ansätze könnten hierdurch erschwert werden. Daher ist es essentiell, dass die verwendeten Werkzeuge durchdrungen, kritisch reflektiert und sinnvoll für die Bearbeitung der jeweiligen Forschungsfrage eingesetzt bzw. erweitert werden. Ein gemeinschaftlicher und digital begleiteter Forschungsprozess wird zum Teil mit einer analogen Einzelforschung in den Geisteswissenschaften kontrastiert, woran sich auch Fragen zum Urheberrecht eines im Zuge einer virtuellen Forschungsumgebung erzielten Forschungsergebnisses anschließen können: Wie gewichtet man die einzelnen Beiträge und Anteile an der Forschungsleistung? Wer darf sich ›Autor‹ nennen?

Textgrid als Beispiel für eine virtuelle Forschungsumgebung

Das TextGrid Laboratory ist eine weit verbreitete virtuelle Forschungsumgebung im deutschsprachigen Raum. Es handelt sich dabei um eine Software, die in einem in drei Förderphasen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (kurz: BMBF) geförderten Verbundprojekt (TextGrid) mit dem Ziel der Entwicklung einer virtuellen Forschungsumgebung für die Geistes- und Kulturwissenschaften erstellt wurde. Standen zu Beginn vor allem Tools für die Literatur- und Sprachwissenschaften (Arbeit mit Wörterbüchern, (kritischen) Editionen, linguistischen Korpora) im Fokus der Entwicklungsbestrebungen, wurden ab der zweiten Förderphase auch Module und Werkzeuge für andere Disziplinen wie Musikwissenschaften, Kunstgeschichte, Judaistik oder Glossografie entwickelt. Textgrid setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen: dem TextGrid Laboratory, einer virtuellen Arbeitsumgebung, und dem TextGrid Repository, einem Langzeitarchiv für Forschungsdaten.

Explainity-Video des DHd-Kanals zu TextGrid

Das TextGrid Laboratory stellt ein Paket an Werkzeugen, wie einen XML-Editor, integrierte Fachwörterbücher, einen Noteneditor oder einen Text-Bild-Editor zum Verknüpfen von Faksimiles und XML-Daten zur Verfügung. Zusätzlich können weitere, für den individuellen Forschungsprozess hilfreiche Werkzeuge eingebunden werden. Im TextGrid Laboratory können andere Wissenschaftler zu einem Projekt hinzugefügt und mit Schreib- bzw. Leserechten ausgestattet werden. Zur Archivierung bzw. Publikation kann auf das TextGrid Repository zugegriffen werden.

Arbeitsgruppe Virtuelle Forschungsumgebungen der Schwerpunktinitiative »Digitale Information« der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, Leitfaden zu virtuellen Forschungsumgebungen (Stand: 30.9.2011), online: http://www.allianzinitiative.de/fileadmin/user_upload/redakteur/Leitfaden_VRE_de.pdf [03.08.2015].

Hompage von TextGrid: https://www.textgrid.de/ [03.08.2015].

Meyer, Thomas, Virtuelle Forschungsumgebungen in der Geschichtswissenschaft – Lösungsansätze und Perspektiven, in: Libreas. Library Ideas, Nr. 18/2011, S. 38-54.

Carusi, Annamaria and Torsten Reimer, Virtual Research Environment Collaborative Landscape Study, January 2010, online:http://www.jisc.ac.uk/publications/reports/2010/vrelandscapestudy.aspx [03.08.2015].

Homepage FuD: http://fud.uni-trier.de/de/ [03.08.2015].

Handbuch FuD: http://fud.uni-trier.de/de/community/handbuch/ [03.08.2015].

Meyer, Thomas, Virtuelle Forschungsumgebungen: Perspektiven für die Fachinformation und -kommunikation, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften, 01/2012, online: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/290/355 [03.08.2015].

Neuroth, Heike, Fotis Jannidis u. a., Virtuelle Forschungsumgebungen für e-Humanities. Maßnahmen zur optimalen Unterstützung von forschungsprozessen in den Geisteswissenschaften, in: Bibliothek. Forschung und Praxis, 33/2009, S. 161-169, online: http://www.degruyter.com/view/j/bfup.2009.33.issue-2/bfup.2009.017/bfup.2009.017.xml [05.09.2015].

Virtuelle Forschungsumgebung. Schwerpunktinitiative »Digitale Information« der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen:http://www.allianzinitiative.de/handlungsfelder/virtuelle-forschungsumgebung.html [03.08.2015].