Geisteswissenschaften
Bevor sich die Frage nach den Digitalen Geisteswissenschaften überhaupt sinnvoll stellen lässt, muss geklärt werden, was unter Geisteswissenschaften verstanden wird. Als Annäherung hieran lassen sich vor allen Dingen Kategorisierungsansätze und die akademische Tradition heranziehen.
(Autor: Matthias Schneider, 30.09.2015)
Kategorisierungsansätze
Zumeist wird der Kollektivsingular »Wissenschaft« in zwei große Teile gegliedert: in die Naturwissenschaften, welche tendenziell einem erklärenden Ansatz verpflichtet sind, und die Geisteswissenschaften als Sammlung von Disziplinen, die ihren jeweiligen Gegenstand geistig durchdringen und verstehen wollen, s. zur klassischen Unterscheidung Dilthey (1958/1959). Diese Trennung ist nicht als kategorisch anzusehen, versuchen doch beispielsweise die Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften) auch, soziale Phänomene theoriegeleitet zu erklären und darauf aufbauend sogar Prognosen über künftige Entwicklungen zu erstellen.
Innerhalb der Geisteswissenschaften können weitere Disziplinen (=Einzelwissenschaften, Einzelfächer) untergliedert werden. Zu den »klassischen« Geisteswissenschaften zählen:
- die Sprach- und Literaturwissenschaften (Anglistik, Germanistik, Klassische Philologie...),
- die historischen Wissenschaften (Geschichte, Archäologie, Papyrologie...),
- die Theologie,
- die Philosophie,
- Rechtswissenschaften...
Akademische Tradition
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts haben sich viele der heute noch an Universitäten vertretenen Fächer entwickelt. Prozesse der Professionalisierung, Spezialisierung und Disziplinierung haben dazu geführt, dass sich die wenigen Fächer der Universitäten des Mittelalters, die sog. septem artes liberales: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, und der Frühen Neuzeit zusehends auseinander entwickelt haben. Aus diesen Vorgängen resultiert eine Vielzahl heute etablierter Disziplinen wie Geschichte, Germanistik, Archäologie oder die Klassische Philologie. Einen knappen Überblick über die institutionelle Entwicklung der europäischen Universitäten bietet Koch (2008). Durch die technischen und fachlichen Entwicklungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sind weitere Fächer wie die Computerlinguistik, die Computerphilologie, die Informatik oder auch die Informationswissenschaften hinzugekommen. Aus der intensiven Auseinandersetzung dieser neuen Forschungsrichtungen insbesondere mit der Theologie, den Sprach- und Literaturwissenschaften sowie den historischen Fächern resultierten die Anfänge der heute verbreiteten Digitalisierung von Forschung und Lehre.
Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, (Gesammelte Schriften, 7), 2., unveränd. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1958.
Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, 1. Band, (Gesammelte Schriften, 1), 4., unveränd. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1959.
Koch, Hans-Albrecht, Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008.