Digitaler Wandel der geisteswissenschaften?
Der Digitalisierungseifer führt auch in der Literaturwissenschaft zu „Big Data“, also großen Datenmengen und entsprechenden Analysemethoden und Suchfunktionen. »Man hat dann mehr Daten über mehr Texte, kann natürlich viel mehr Texte einbeziehen, als man lesen kann und kann mehr Aussagen treffen, zum Auftreten bestimmter Begriffe zu bestimmten Zeiten« (Möller 2015: o. S.). Die digitale Analyse großer Datenmengen in der Literaturwissenschaften stößt jedoch nicht nur auf Zustimmung. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski betont die Verschiedenheit zwischen Interpretationsmethoden der bisherigen Literaturwissenschaft und statistisch geprägten Analysen der Digital Humanities.
Ein Überhandnehmen zweiterer Ansätze wäre »eben keine Liebe mehr zum Text, sondern eher zur Zahl« (Möller 2015: o. S.). In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Thomas Thiel und fragt, ob diese Schwerpunktverschiebung eine empirische Wende für die Geisteswissenschaften bedeutet (Thiel 2012: o. S.). Rufen manche, wie der Germanist Jan Christoph Meister, euphorisch das »Ende hermeneutischer Einzelforschung« (Thiel 2012: o. S.) aus, machen sich auch kritische Stimmen breit. Worst-case Szenario ist dabei eine Diktion durch die Computerindustrie und ein Verkommen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu einem bloßen Füttern von Software mit Texten.
Die Etablierung der Digital Humanities zeigt sich auch daran, »dass es keine großen Konferenzen der Geisteswissenschaften mehr gibt, ohne irgendein Panel dazu« (Möller 2015: o. S.). Dass jedoch nicht alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen dem digitalen Wandel offen gegenüberstehen bzw. digitale Möglichkeiten und Entwicklungen nutzen, betont Anne Baillot von der Humboldt-Universität Berlin. In ihrem Fach, der Germanistik, »hinke man noch sehr hinterher« (Möller 2015: o. S.). Als großen Vorteile der Nutzung digitaler Methoden sieht Baillot die Verknüpfung und Vernetzung von Texten (vgl. Möller 2015: o. S.). Digitale Editionen im Internet ermöglichen es, »Dinge hinzuzufügen, zu verbessern und den Text anzureichern« (Möller 2015: o. S.), was, wie Baillot auch betont, allerdings die Zitierbarkeit beeinflusst, da Inhalte ständig geändert werden können. Essentiell ist daher »die Frage nach einheitlichen Standards und dadurch möglicher Qualitätssicherung« (Möller 2015: o. S.).
Auch der Literaturwissenschaftler Franco Moretti arbeitet mit digitalen Methoden in seinem Fachgebiet. Im Literary Lab, welches Moretti an der Stanford University leitet, arbeiten Programmierer und Literaturwissenschaftler kollektiv an Projekten mit großen Textmengen – Textmengen, »die für einen einzelnen Wissenschaftler kaum zu bewältigen wären« (Möller 2015: o. S.). Die Analyse großer Textkorpora kann somit den bisherigen »engen Blick auf die Literaturgeschichte«, welcher »auf einem klitzekleinen Ausschnitt der Bücher, die tatsächlich geschrieben und veröffentlicht wurden« beruht, grundlegend verändern (Möller 2015: o. S.). Hand in Hand mit diesem Ansatz geht auch der Wandel der Praxis des Close Reading zum Distant Reading. Beim Close Reading werden wenige Texte »eingehend und im Detail interpretiert« (Möller 2015: o. S.), beim Distant Reading große Textmengen aus einer produktiven Distanz. Wichtig ist beim Distant Reading die Zusammensetzung des Korpus, mit welchem gearbeitet wird; d. h., er muss repräsentativ für die jeweilige Forschungsfrage sein.
Digitale Methoden liefern eindeutige Ergebnisse in Form von Zahlen. Die Geisteswissenschaften tendieren dadurch dazu den Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaften zu übernehmen. Eine Tendenz, welche für Peter Simanowski die gesellschaftliche Funktion von Geisteswissenschaften gefährdet, liegt darin, dass »sie dem positivistischen, technischen Wissen, der Ingenieurswissenschaften, der Naturwissenschaften, die Ungenauigkeit des geisteswissenschaftlichen Wissens entgegensetzt.« (Möller 2015: o. S.). Die Geisteswissenschaften prolongieren eine Multiperspektivität bzw. »dass nichts feststeht, dass alles weiter diskutiert werden kann« um welche Simanowski fürchtet (Möller 2015: o. S.). Claudine Moulin dagegen sieht keine Gefahr für die interpretativen Geisteswissenschaften durch die präzisen Methoden der Digital Humanities. Vielmehr gehe es um ein »Miteinander der Methodologien« (Möller 2015: o. S.). Eine Verdrängung der klassischen Geisteswissenschaften wird von mancher Stelle jedoch nicht nur aus methodologischer Sicht befürchtet, sondern auch durch ausbleibende Fördergelder, welche nun mehr in Digital Humanities-Projekte investiert werden. Anne Baillot kann dem nicht beipflichten und betont die hohen Kosten von digitalen Projekten und die Problematik, digitale Projekte über einen langen Zeitraum verfügbar zu halten: »Das heißt, es geht nicht darum, dieses Produkt einmal fertig zu stellen, sondern jemand muss dahinter stehen und immer wieder sicher machen, okay die Scripts funktionieren noch oder ich muss die Scripts aktualisieren, weil die Browser sich geändert haben usw.« (Möller 2015: o. S.)
In den Digital Humanities arbeiten Leute mit unterschiedlichsten Kompetenzen, die durch kollaboratives Arbeiten in Gruppen und Netzwerken die Community der Digital Humanities bilden. Etabliert sich hier also eine neue Form des Arbeitens: Gemeinsam statt, wie dem Geisteswissenschaftler nachgesagt, »im stillen Kämmerlein« (Möller 2015: o. S.)?
Diskutiert wird auch die Frage nach der Rolle der technischen Disziplinen im Methodenkonglomerat Digital Humanities als »keine festumrandete Disziplin« (Thiel 2012). Thomas Thiel sieht in Computerlinguistik, Computerphilologie und Fachinformatik einen »technischen Hilfsdienst der Geisteswissenschaften« (Thiel 2012: o. S.), dem bisher lediglich die wissenschaftliche Anerkennung versagt blieb. Bei der Digital Humanities Tagung in Hamburg im Jahr 2012 vermisste Thiel jedenfalls einen Erkenntnisanspruch oder »theoretische Reflexion« in den vorgestellten Projekten, wodurch sich die Digital Humanities tatsächlich als Hilfswissenschaften präsentierten und nicht als »Speerspitze einer umfassenden Transformation der gesamten Geisteswissenschaften« (Thiel 2012: o. S.).
Möller, Christian, Wie die Digitalisierung die Wissenschaft verändert, in: Deutschlandradio Kultur, 5.3.2015, online: http://www.deutschlandradiokultur.de/digital-humanities-wie-die-digitalisierung-die-wissenschaft.976.de.html?dram:article_id=313420 [5.9.2015].
Thiel, Thomas, Eine empirische Wende für die Geisteswissenschaften?, in: FAZ, 24.7.2012, online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/digital-humanities-eine-empirische-wende-fuer-die-geisteswissenschaften-11830514.html [5.9.2015].