Grundbegriffe der Editionsphilologie
(Autor: Daniel Schneider, 13.02.2019)
»Im Anfang war das Wort« (Joh 1,1), doch was geschieht damit nach dem Anfang? Texte werden mündlich und schriftlich tradiert und sind dabei stetigem Wandel unterworfen: Sie werden korrigiert, umformuliert, übersetzt, ausgeschmückt, zusammengefasst, zensiert, aus der Erinnerung niedergeschrieben, diktiert, Abschreibfehler schleichen sich ein oder es werden nur Auszüge verwandt. Wie beim »Stille Post«-Prinzip verändern sich nach und nach Form und Inhalt. Aus diesem Grund greifen Wissenschaftler, die sich mit Texten befassen, auf Editionen zurück. Diese geben handschriftliche und gedruckte Texte verlässlich wieder, auch wenn diese nur in Bruchstücken oder in mehreren Fassungen vorliegen. Dabei bieten sie mehr als bloß eine lesbare Fassung des Textes an, denn sie geben Einblick in die Entwicklung des Textes und Hilfestellung bei der inhaltlichen Erschließung.
Die Probleme, die Editionen zu überwinden versuchen, sind vielfältig, denn die meisten Texte liegen nicht nur in einer Fassung vor. Schon während der Erarbeitung eines Textes können zahlreiche Manuskripte (Handschriften) entstehen, die unterschiedliche Versionen des Textes fixieren. In Abgrenzung hierzu werden mit Schreibmaschine oder Computer abgefasste Texte als Typoskripte bezeichnet. Oft sind noch Änderungen wie Streichungen, Einschübe und Korrekturen in verschiedenen Formen nachzuverfolgen.
Textzeugnisse können sich nicht nur in ihrer Produktionstechnik sehr stark unterscheiden, sondern auch im Verhältnis zu ihrem Autor. Hat dieser einen Text eigenhändig niedergeschrieben, spricht man von einem Autographen; im Gegensatz hierzu bezeichnet man eine von anderen Personen nach einer Vorlage abgefasste Version des Textes als Abschrift. Je älter ein Text ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass die erhaltenen Textzeugnisse das Ergebnis einer langen Reihe von Abschriften sind und daher zahlreiche Varianten existieren. Eine Sonderform der Abschrift stellt die Transkription dar. Diesee versucht, einen Text nach bestimmten Richtlinien wiederzugeben. Hat ein Autor noch selbst redigierend eingreifen können, so spricht man bei der ersten Veröffentlichung seines Werkes von einer Ausgabe erster Hand, während die letzte persönlich überwachte Publikation als Ausgabe letzter Hand bezeichnet wird.
Beim Edieren gilt es nun, eine oder mehrere Textfassungen zu bestimmen, die als Basis der Edition dienen. Hieraus wird ein edierter Text erstellt, der nicht notwendigerweise nur einem einzelnen Textzeugnis entstammt. Vor allem wenn ein Text in vielen verschiedenen Varianten vorliegt, aber keine Fassung in Gänze überdauert hat, muss kollationiert werden. Es gilt daher Abweichungen von den benutzten Textzeugen gegenüber dem edierten Text zu dokumentieren und Transparenz über die Entstehung des edierten Textes herzustellen. Dies kann von Varianten in der Schreibweise, die einen einzelnen Buchstaben umfassen, bis zu langen Einschüben, die lediglich in einer Textfassung enthalten sind, reichen. In manchen Fällen werden auch »Verbesserungen« (Emendationen) durch den Editor vorgenommen, um den Text besser lesbar zu machen. Dies kann unter anderem das Ersetzen von unüblichen Wortformen durch geläufigere, das „Korrigieren“ offensichtlicher „Fehler“ oder auch das Ergänzen fehlender Wörter beinhalten.
Zur Bewältigung dieser Aufgaben nutzt man die sogenannten Apparate. Am häufigsten genutzt ist der Einzelstellenapparat, der Varianten zu einzelnen Wörtern und Abschnitten in den verschiedenen Versionen eines Textes bietet. Dies kann in Form von Fußnoten geschehen oder in digitalen Editionen auch durch Verlinken oder Pop-ups. Verschiedene Textfassungen können auch mittels eines Synoptischen Apparates dargestellt werden, in dem die Texte der verschiedenen Textzeugnisse parallel zueinander dargeboten werden. Zur besseren Übersichtlichkeit und aus Kostengründen wird im Druck meistens nur ein Textzeuge – also eine bestimmte Handschrift oder Druckausgabe – ganz wiedergegeben, während von den übrigen nur die Varianten abgebildet werden. Digitale Editionen eröffnen die Möglichkeit, alle oder nur ausgewählte Textzeugen synoptisch darzustellen. Sollen komplexe Korrekturvorgänge ediert werden, können die unterschiedlichen Korrekturstufen hierarchisch geordnet werden. Diese Form des Apparates, die chronologisch die Änderungen eines Textes darstellt, nennt sich Treppenapparat.
Die Anreicherung eines Textes mit zum Verständnis wichtigen Informationen stellt eine weitere wichtige Aufgabe der Edition dar. Manche Autoren codieren ihre Werke bewusst, beispielsweise durch Geheimschrift oder -sprache, aber auch nicht allgemein geläufige Kürzel, Bildsprache, Zitate oder Fachbegriffe bedürfen oft der Erläuterung (Primäre Dunkelheit). Bei älteren Texten tritt meist noch ein weiteres Problem auf. Orte, Personen, Wortformen, Gegenstände oder Praktiken geraten in Vergessenheit und sind später nicht mehr allgemein bekannt, sodass diese dem Leser durch die Edition verständlich gemacht werden müssen (Sekundäre Dunkelheit). Solche Schwierigkeiten werden durch die Kommentare der Editoren gemindert, welche im Druck als Fuß- oder Endnoten oder im Digitalen durch Linken oder Pop-ups umgesetzt werden können.
Neben den Apparaten und Kommentaren nutzen Editionen auch andere Hilfsmittel, um die Erschließung des Textes zu erleichtern. Zum besseren Verständnis werden meist Informationen zu Autor und Überlieferung geboten, die Textzeugnisse werden beschrieben, manchmal sogar Schriftbeispiele oder Faksimiles (originalgetreue Reproduktionen) wiedergegeben. In vielen Fällen legt der Editor Rechenschaft über seine Arbeitsweise und die Editionsprinzipien ab. Gerade bei umfangreichen Werken sind Register bzw. Indizes ein wichtiger Bestandteil gut ausgeführter Editionen. Diese erlauben dem Leser, gezielt die Stellen zu finden, an denen die für ihn interessanten Personen, Orte, Dinge etc. erwähnt sind.
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